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  • 23.04.2020

Standpunkt: Werden wir uns ändern? Was werden wir ändern?

Diese Fragen durchdringen unsere Abgeschiedenheit sowie unsere ungewohnten virtuellen Treffen mit Freunden und Familie. Sie drücken nicht nur das Bedürfnis aus, die aktuellen Geschehnisse zu verstehen, sondern auch die Notwendigkeit, einen sicheren Weg nach vorn in einer Welt zu finden, die mit abrupten Veränderungen und Ungewissheit konfrontiert ist. Ein Bedürfnis nach Weitsicht, wo es derzeit keine gibt. 

Eines ist jedoch sicher: Dieses Eindringen des Unmöglichen in den Bereich der Möglichkeiten zwingt uns schon jetzt, anders zu denken. „Wenn eine Katastrophe verhindert werden soll, müssen wir an deren Möglichkeit glauben, noch bevor sie passiert“[1]. Nun, das Undenkbare ist geschehen. Um den großen kollektiven kognitiven Wandel rückgängig zu machen, müsste unser Wunsch zu vergessen noch größer sein; dafür wird es aber zu viele Tote gegeben haben, egal, welche Erklärung man für das Geschehene finden mag. Es ist passiert, und es hat tiefliegende Strukturen offenbart, die zuvor verborgen waren. Das geschieht, „wenn das Undenkbare Wirklichkeit wird“.[2]

Die Krise hat das Wesen der Globalisierung offenbart 

COVID-19 hat nicht nur einen Schock, sondern eine ganze Reihe von Schocks ausgelöst, die ein Land nach dem anderen erschüttert haben. Jeder Schock wurde durch den vorherigen noch verstärkt und zwar auf zwei Ebenen: Im Moment erleben wir die Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit, die Finanzmärkte und die Wirtschaft; aber auch die sozialen, politischen und geopolitischen Auswirkungen werden sichtbar. Das Virus hat eine globale Kettenreaktion ausgelöst.  

Aber es ist nicht der gesundheitspolitische Aspekt des Schocks, der zu dieser besonderen Art von Krise geführt hat (es hätte genauso gut ein ökologischer Schock sein können – in der Tat denken einige Leute, dass es sich hierbei um einen solchen handelt); es ist vielmehr die starke Vernetzung unserer Welt, die die Krise ausgelöst hat: Die freie Weltwirtschaft – Handel, Offenheit, übergreifende Produktionsketten – hat ein so komplexes System geschaffen, dessen schnelle Rückkopplungen bei den Standardprognoseverfahren verheerenden Schaden anrichten.  

In diesem System können wir langfristige Gleichgewichtszustände prognostizieren, aber keine kurzfristigen. Die Krise erinnert somit an eine methodologische Frage, die von den Anhängern der Komplexitätstheorie seit langem untersucht wird: Wie können wir effektiver über Interaktionen und Spannungspunkte zwischen einem Objekt und dem System, zu dem es gehört, nachdenken?[3] Im Hinblick auf Lieferketten hatten geopolitische Entwicklungen diese Fragen bereits aufgeworfen. Jetzt werden sie entscheidend: Wie sollen strategische Sektoren reintegriert werden? Wie weit soll der Begriff des „strategischen Vermögenswerts“ ausgedehnt werden? Wie sollten wir darüber nachdenken, uns von der Hyperglobalisierung zurückzuziehen?[4] Wie können die Lieferketten wieder in Bewegung kommen, wenn sich die Grenzen nicht in absehbarer Zeit wieder öffnen?

Aber die Kettenreaktion verläuft auch in einer bestimmten Reihenfolge, die nicht durchbrochen werden kann, da jede Stufe von der vorhergehenden abhängig ist: (1) Was entscheidet darüber, ob ein Land dem Schock im Gesundheitswesen standhalten kann oder nicht? (2) Wie viel wirtschaftlichen, politischen und sozialen Handlungsspielraum hat dieses Land angesichts eines Lockdown – kurz, wie viel Zeit kann es sich erkaufen? Für die Länder entscheidet das die politische Linie, die Steuer- und Finanzpolitik sowie Schulden, Defizite und vieles andere mehr. Für Unternehmen entscheidet die Liquidität. Für Einzelne entscheiden der eigene Vermögensstand, das Netzwerk sowie Ängste und Geduld, ob man „ausharren“ kann oder nicht. Die Zeitfunktion ist extrem wichtig geworden: Sie bestimmt, wie viel irreversiblen Schaden die Krise anrichten kann. (3) Und schließlich: Wie gefährdet ist jedes Land durch die drohende globale Rezession?

Die Krise legt den Kern des Sozialsystems jeder Gesellschaft offen 

Der Schock im Gesundheitswesen beginnt symmetrisch und betrifft Länder wie Einzelpersonen. Aber seine wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen werden nicht symmetrisch sein. Im Gegenteil, sie werden die Ungleichheiten noch vergrößern – sowohl unter den Ländern als auch unter Einzelpersonen.

Der erste Grund dafür ist, dass auch hier das Timing entscheidend sein wird: Die Ersten, die aus der Krise hervorgehen, werden die Gewinner sein. Aktuell befindet sich China in der besten Position, doch noch ist nichts sicher – es besteht noch immer die Gefahr einer zweiten Welle der Epidemie. Hinzu kommt die Unsicherheit, ob eine Rückkehr zu einer voll funktionierenden Wirtschaft bei weiterhin ängstlichen Verbrauchern möglich sein wird. 

Der zweite Grund ist, dass die Armen noch ärmer werden. Aufgrund ihrer Altersstruktur sind Afrika und Indien zwar den Verwüstungen von COVID-19 weniger ausgesetzt, aus gesundheitlicher und wirtschaftlicher Sicht ist die Bevölkerung dieser Länder jedoch stärker gefährdet. Befürchtungen von Versorgungsengpässen können verheerender sein als die Krankheit selbst. In der Ukraine ist von einer Abgabebeschränkung bei Weizen die Rede, in Vietnam bei Reis und in Kasachstan bei Mehl. Und der Senegal bereitet sich darauf vor, der Hälfte seiner Bevölkerung Nahrungsmittelhilfen zu leisten. Doch selbst als die UNO um Hilfe bittet, bleibt ihr Sicherheitsrat gelähmt durch das Beharren der Vereinigten Staaten auf der Verbindung der Worte „chinesisch“ und „Virus“. Die Altlasten der Welt, wie sie vor der Krise war, lähmen schon jetzt das, was eine Chance sein könnte, eine neue Welt zu schaffen. 

Die Krise wirft neue Fragen über „Modelle“ auf – Fragen, die sich schon nach den politischen Unruhen der letzten Jahre aufdrängten

Vorbehaltlich statistischer Fehler, verfälschter Angaben und der Ungewissheit darüber, was in den kommenden Monaten auf uns zukommen wird, lassen sich zwei Arten von Ländern ausmachen, die interessanterweise eine niedrigere Sterblichkeitsrate zu haben scheinen als der Rest:

  • Die erste Gruppe bilden jene Länder, die bereits mit Krisen im Bereich der öffentlichen Gesundheit konfrontiert waren und seither einen präventiven Ansatz verfolgen. Staaten/Regionen wie Hongkong, Singapur, Taiwan, Südkorea, Neuseeland, Japan und Australien beweisen somit ein langfristiges Problembewusstsein. Diskutiert wurde hier über die Höhe der öffentlichen Ausgaben und die Geschwindigkeit der Grenzschließungen. Auch arme Länder profitieren von ihren Erfahrungswerten: Südafrika ist zwar sehr anfällig für COVID-19, seine in früheren Epidemien etablierten Krisenstrukturen sind aber schnell in Kraft getreten, und sein privater und öffentlicher Sektor haben schnell kooperiert.
  • Die zweite und interessantere Gruppe besteht aus den Ländern, die Krisensituationen im Bereich der öffentlichen Gesundheit nicht gewohnt sind. In Deutschland, Kanada, Israel und Island gestaltet sich die Sachlage anders. Dies geht zurück auf Faktoren wie Geschichte, Kultur und auch die Rolle der Regierung: Die geschichtsträchtige Tragweite des Vorsorgeprinzips, eine schnelle Reaktions- und Anpassungsfähigkeit und vor allem die Fähigkeit, in der Gemeinschaft zu handeln, bestimmen maßgeblich sowohl die Reaktion der Bevölkerung als auch die administrative und institutionelle Effizienz.

All dies läuft auf das hinaus, was wir von der Gesellschaft erwarten; auf das, was der Philosoph Thomas Hobbes als Grundlage des politischen Vertrages ansah: das vorrangige, wesentliche Bedürfnis nach Sicherheit. Aus der Krise heraus wird es zweifellos dieses Bedürfnis sein, das unsere künftigen wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen dominieren und prägen wird. Das ist es, was sich ändern wird.

Auf der ganzen Welt wird COVID-19 eine enorme Bewährungsprobe für den nationalen Zusammenhalt sowie eine große Herausforderung für Regierungen, etablierte Eliten und internationale Institutionen sein – und ist es bereits. Und überall auf der Welt, sowohl in autoritären als auch in liberalen Ländern, wird der Augenblick der Aufarbeitung kommen: Die Länder werden sich für die Effizienz ihrer Gesundheitsversorgung wie auch für ihre Fähigkeit, die Ordnung aufrechtzuerhalten, verantworten müssen. Für den Umgang ihrer Regierungen mit der Wahrheit und wie sie Risiken für die öffentliche Gesundheit gegen wirtschaftliche Effizienz abgewogen haben. Und schließlich für die Auswirkungen all dessen auf eine Welt, die bereits von Ungleichheit gespalten ist.

Beitrag von Tania Sollogoub, Senior Economist

[1] Pierre Dupuy, Pour un catastrophisme éclairé (Seuil, Sammlung “Point”, 2004).

[2] Ibid.

[3] I. Prigogine and I. Stengers, The New Alliance, 1999

[4] Vgl. die Ausführungen des Ökonomen Dani Rodrik.

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