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  • 28.04.2020

Europäische Solidarität: Unmöglich, bedingt oder bedingungslos?

Werden die Maßnahmen der Europäischen Union (EU) ausreichen, um wirksame europäische Solidarität zu demonstrieren? Besteht die Möglichkeit, dass sich die Geschichte wiederholen könnte, wenn die EU zu wenig unternimmt und zu spät handelt? Dabei handelt es sich natürlich um politische Fragen, aber auch rechtliche Sachverhalte können hier nicht ignoriert werden. Ein Blick auf die Präzedenzfälle in der Rechtsprechung der Eurozone kann uns helfen, diese Sachverhalte besser zu verstehen. Um sicher zu sein, den richtigen rechtlichen Weg einzuschlagen, ist es jedoch unerlässlich, die wahre Natur dieser Krise zu analysieren und zu untersuchen, wie sie sich von der letzten Krise unterscheidet. 

Selbstverschuldete Krise: Stark bedingte Solidarität

Die Institutionen und Instrumente der Eurozone zur Krisenverhütung und -bewältigung, die nach der großen Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 geschaffen wurden, basieren auf einem besonderen Narrativ über den Ursprung der Krise. Nachdem sie den „Fehler“ begangen hatten, die Verschuldung des privaten und öffentlichen Sektors zuzulassen, mussten einige Länder unter die Aufsicht ihrer Gläubiger gestellt werden, um sicherzustellen, dass sie das richtige Verhalten annahmen, damit die ihnen geliehenen Gelder zurückgezahlt würden und sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholten. 

In den letzten zehn Jahren drehte sich dieses Narrativ um die Artikel 123* und 125** des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der durch den Vertrag von Maastricht eingeführt wurde. Diese beiden Artikel, die als „No-Bailout-Klauseln“ bekannt sind, mahnen, dass weder die Europäische Zentralbank noch ein Mitgliedstaat die Schulden eines anderen Mitgliedstaates übernehmen kann. Aber war es die Absicht der Gründer, ein Europa zu entwerfen, in dem die einzig mögliche Form der Solidarität diejenige ist, die sich aus der Umverteilung über den EU-Haushalt ergibt?

Die Antwort lautet eindeutig nein! Das bedeutet nicht, dass es der Union und ihren Mitgliedstaaten untersagt ist, einem anderen Mitgliedstaat in irgendeiner Form finanzielle Unterstützung zu gewähren. Es bedeutet lediglich, dass es notwendig ist, den außergewöhnlichen Charakter der Finanzhilfe für krisengeschüttelte Länder zu betonen sowie die Einschränkungen dieser Form der Unterstützung hervorzuheben, um zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten bei ihrer Verschuldung weiterhin den Marktkräften unterworfen bleiben, wodurch sie zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin ermutigt werden. So stand es den Mitgliedstaaten frei, einen Stabilitätsmechanismus wie den 2012 eingeführten Europäischen Stabilitätsmechanismus*** (ESM) zu implementieren, der den Kapitalbedarf der Mitgliedstaaten in einem von finanzieller Instabilität geprägten Umfeld decken sollte. Ein solcher Mechanismus konnte geschaffen werden, solange er unter Einhaltung des EU-Rechts funktioniert, insbesondere im Hinblick auf die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten. Das Grundprinzip des ESM ist eindeutig, dass eine solche Solidarität mit strikten Bedingungen für die Wirtschaftspolitik der Länder, die von seiner Hilfe profitieren, einhergehen muss. Das bedeutet, dass diese Länder einen Teil ihrer (zuvor schlecht ausgeübten) Souveränität an rechtschaffene Gläubiger abgeben müssen. 

Eine ausgebliebene demokratische Debatte vertiefte die Kluft

Obwohl der Zweck des ESM eindeutig darin besteht, sicherzustellen, dass die Wirtschaftspolitik der Länder ordnungsgemäß koordiniert wird, wurden seine Bedingungen nicht ausreichend diskutiert und in Frage gestellt. Die Relevanz und Wirksamkeit der Wirtschaftspolitik, die er inspiriert hat, wurde nicht ausreichend überprüft und bewertet. Diese Art von Debatte hätte im Vorfeld geführt werden müssen; nicht alle europäischen Bürgerinnen und Bürger haben die Dringlichkeit und die Bedingungen der gewährten Hilfe als völlig legitim empfunden. Das Jahrzehnt, das seit der Finanzkrise verstrichen ist, hat sicherlich Zweifel an ihrer Relevanz aufkommen lassen, aber es wurden nicht genügend Anstrengungen unternommen, um sich auf die Art von ausführlicher Debatte einzulassen, die zu einer neuen wirtschaftspolitischen Rahmenordnung hätte führen können, die bei Ausbruch der nächsten Krise mobilisiert werden könnte.

Bei der spezifischen Frage nach der Relevanz dieser Form der Bedingungen, wie sie in der Vergangenheit angewandt wurde, und jetzt, da Europa von einer neuen Krise betroffen ist, zeigt sich die Bruchlinie zwischen den Ländern. Gerade wenn die schwierigsten Entscheidungen getroffen werden müssen, fehlt die Zeit, um sich auf einen neuen wirtschaftspolitischen Rahmen zu einigen und seine demokratische Legitimität sicherzustellen. Aus diesem Grund weigern sich einige Länder, dem Einsatz des ESM als Instrument zur Lösung der Krise zuzustimmen.

Unverschuldete Krise: Bedingungslose Solidarität

Vor den Artikeln 123 und 125 verfassten die Gründer Artikel 122 des AEUV. In diesem Artikel heißt es: „Ist ein Mitgliedstaat aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernsthaft bedroht, so kann der Rat dem betreffenden Mitgliedstaat auf Vorschlag der Kommission unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Union gewähren. Der Präsident des Rates unterrichtet das Europäische Parlament über die getroffene Entscheidung.“ Diese wenigen Zeilen decken alle Grundlagen ab, vom auslösenden Ereignis bis zum Prozess der Sicherung der demokratischen Legitimität durch das institutionelle Dreieck der EU (Europäische Kommission, Europäischer Rat und Europäisches Parlament). Darüber hinaus erkennt die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union**** (CJEU) an, dass das Bestehen des ESM die der Union durch Artikel 122 erteilten Befugnis nicht beeinträchtigt und dass die beiden Mechanismen daher nebeneinander bestehen können, was zwei unterschiedlichen Ansätzen entspricht.

Auf dieser Grundlage hat die Kommission das Hilfsprogramm SURE (Support to mitigate Unemployment Risks in an Emergency) vorgeschlagen. Und auf dieser Grundlage baut auch der Vorschlag Frankreichs für einen Wiederaufbaufonds zur Vorbereitung und Unterstützung der Phase nach der Krise auf. Dabei würde es sich um einen befristeten, zielgerichteten Fonds handeln, der in einem angemessenen Verhältnis zu den außerordentlichen Kosten steht, die sich aus der gegenwärtigen Krise ergeben. In diesem Umfeld, in dem die hohen Kosten einer unverschuldeten Krise über die Zeit verteilt werden müssen, gibt es keinen Platz für strenge Auflagen. Der Vorteil von SURE besteht genau darin, dass es sich nicht auf die allgemeine Finanzpolitik der von der Pandemie betroffenen Länder bezieht, sondern nur auf die durch die Pandemie ausgelösten spezifischen finanziellen Bedürfnisse. Es fällt somit nicht in den Bereich des moralischen Wagnisses und birgt kein Risiko, Anreize für eine schlechte Politik zu schaffen. 

Im Rahmen von Artikel 122 erfolgt die Finanzhilfe der Union in Form eines Darlehens oder eines Kreditrahmens, der dem betreffenden Mitgliedstaat gewährt wird. Die Europäische Kommission leiht den fraglichen Betrag nach einem Beschluss des Rates mit qualifizierter Mehrheit aus.

Die Fähigkeit der EU, Anleihen auszugeben, ist jedoch ein höchst umstrittenes Thema. Der EU-Haushalt darf nicht durch Anleihen finanziert werden; er darf nur aus Eigenmitteln der EU finanziert werden. Für das SURE-Programm hat die Kommission daher beschlossen, die staatlichen Garantien, auf denen ihre Kreditkapazität beruht, als extern zugewiesene Einnahmen mit ungewissem Haushaltsstatus oder neben dem EU-Haushalt zu behandeln – etwas, mit dem nicht jedes Land zufrieden sein dürfte. In der Zwischenzeit beinhaltet das vorgeschlagene Konjunkturprogramm ein neues zwischenstaatliches Abkommen zur Schaffung eines neuen Fonds außerhalb des Kommissionshaushalts, dessen Kreditkapazität durch den EU-Haushalt garantiert würde.

In jedem Fall wird die in Artikel 122 festgelegte qualifizierte Mehrheit im Rat nicht ausreichen, um den Plan zu genehmigen. Die Verfassungsgesetze einer Reihe von Ländern verlangen, dass alle Haushaltsausgaben oder Garantien von den nationalen Parlamenten genehmigt werden. Eine einstimmige Zustimmung wird daher erforderlich sein. Die Finanzierung eines solch wichtigen Programms muss den gesetzlichen Anforderungen entsprechen und darf nicht unnötig angreifbar sein und der Unsicherheit unterliegen, auf verschiedene verfassungsrechtliche Zuständigkeiten zurückzugreifen, sei es national oder EU-weit.

Die hitzige Debatte, die diese Vorschläge verschlungen hat, ist somit nichts weiter als ein Vorgeschmack auf den Konflikt um die Verteilung der Ressourcen, der die Europäische Union – und andere – nach dem Ende der Pandemie erwartet.

Beitrag von Paola Monperrus-Veroni, Economist  

* „Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten bei der Europäischen Zentralbank oder den Zentralbanken der Mitgliedstaaten [...] für [andere] Mitgliedstaaten sind ebenso verboten wie der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln von diesen durch die Europäische Zentralbank oder die nationalen Zentralbanken.“

** „Die Union haftet nicht für die Verbindlichkeiten […] von Mitgliedsstaaten und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens. Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten [...] eines anderen Mitgliedstaats [...] und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein.“

*** „Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der zu aktivieren ist, wenn dies zur Sicherung der Stabilität des Euro-Währungsgebiets als Ganzes unerlässlich ist. Die Gewährung eines erforderlichen finanziellen Beistands im Rahmen des Mechanismus wird an strenge Bedingungen geknüpft.“

**** Urteil des Gerichtshofs (Plenum), 27. November 2012: Thomas Pringle gegen die Regierung der Republik Irland und andere.

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